2012/03/22

Ex-Richter geht mit seiner Zunft ins Gericht - und die schweigt

Stuttgart - Wie soll man mit einem ehemaligen Richter umgehen, der das deutsche Rechtssystem öffentlich als verkommen beschreibt? Justiz und Politik im Land haben sich fürs Ignorieren entschieden - doch auch das irritiert manche Bürger.

Der Leserbrief in der "Süddeutschen Zeitung" war kurz, aber deftig. Erst stellte sich der Verfasser vor, als langjähriger Richter (1973 bis 2004) am Landgericht Stuttgart. Dann legte er jede richterliche Zurückhaltung ab und ging mit seiner Zunft ins Gericht.



In seinen dreißig Berufsjahren, schrieb Frank Fahsel aus Fellbach, habe er "ebenso unglaubliche wie unzählige, vom System organisierte Rechtsbrüche und Rechtsbeugungen erlebt". Ebenso seien ihm zahlreiche Richter und Staatsanwälte begegnet, "die man schlicht kriminell nennen kann". Die seien aber "sakrosankt" gewesen, weil sie von oben gedeckt wurden. "Wenn ich an meinen Beruf zurückdenke", bilanzierte der Pensionär Fahsel (Jahrgang 1939) abschließend, "dann überkommt mich ein tiefer Ekel vor ,meinesgleichen'".





Mehr als 600 Einträge bei Google

Erschienen ist der bitterböse Brief bereits vor ein paar Monaten. Doch seither geriet er nicht etwa in Vergessenheit, sondern wurde - vor allem über das Internet - immer weiter verbreitet. Inzwischen avancierte Fahsel zu einer Art Kronzeugen für all jene, die aus den unterschiedlichsten Gründen mit der Justiz hadern. Wenn sogar ein ehemaliger Richter aus intimer Binnensicht so urteile, folgern sie, dann müsse das deutsche Rechtssystem ja wirklich verkommen sein.

Die bundesweite Resonanz hat Fahsel geradezu überrollt. Mehr als 600 Einträge finden sich bei der Internetsuchmaschine Google inzwischen unter seinem Namen. Nahezu in jedem Forum von Justizkritikern, -opfern oder -geschädigten wird aus seinem Verdikt zitiert. Noch fast täglich bekommt er Anrufe von Betroffenen, die ihm ihre üblen Erfahrungen mit dem Rechtssystem schildern wollen - und das, obwohl er gar nicht im Telefonbuch steht.

Zuspruch erhält er auch von namhaften Leuten wie dem früheren Preussag-Vorstand Hans-Joachim Selenz. "Besser kann man den Zustand in Teilen der deutschen Justiz nicht auf den Punkt bringen", befindet der Professor auf seiner Homepage. Wenn ein einfacher Bürger solche Vorwürfe erheben würde, dann säße er wohl bald hinter Gittern - es sei denn, folgert Selenz, "es ist die Wahrheit".

Bewusst vage formuliert

Nur die Justiz reagierte gar nicht, jedenfalls nicht nach außen. Bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart hat man das Schreiben des Exrichters schlicht "zur Kenntnis genommen". Die Vorwürfe, sagt eine Sprecherin, seien zu unkonkret, um ihnen inhaltlich nachzugehen, aber auch zu vage, um etwa wegen Beleidigung zu ermitteln. Da hat der Jurist offenbar mit juristischer Vorsicht formuliert.

"Reine Diffamierungen" sieht der Präsident des Landgerichts Stuttgart, Franz Steinle, in den Anwürfen des früheren Kollegen. Lange habe man überlegt, wie damit umzugehen sei; manche Richter hätten sich eine Reaktion der Oberen gewünscht. Doch davon habe man schließlich abgesehen, um Fahsel "kein weiteres Forum zu bieten".

Diese Linie unterstützt auch der Präsident des Oberlandesgerichts Stuttgart, Eberhard Stilz. Er halte es bis heute "nicht für angezeigt, dem Leserbrief die Ehre einer Erwiderung angedeihen zu lassen". Reagieren könne man nur auf eine Äußerung, sagt Stilz, "die ein bestimmtes Niveau hat". Der Richterbund erinnerte immerhin an die Möglichkeit, dass "der Dienstherr auch nach dem Ausscheiden aus dem Dienst disziplinar tätig werden" könne. Das müsse er freilich selbst entscheiden, drängeln wolle man nicht.

Gegenüber den Medien schweigt Fahsel

Welche Vorgänge aber hatte Fahsel im Blick, als er so schroff mit der Justiz abrechnete? Amtlicherseits hat ihn das anscheinend niemand gefragt, und den Medien mag er es, nach schlechten Erfahrungen, nicht verraten. Die Spuren seines Berufslebens lassen freilich erahnen, dass seine Kritik am deutschen Rechtssystem ziemlich grundsätzlicher Art ist. Schon früh beschlichen ihn Zweifel, ob es mit der Gewaltenteilung und der richterlichen Unabhängigkeit wirklich weit her sei. Tatsächlich gebe es eher eine Auslese nach (politischem) Wohlverhalten.

"Wer das System kritisiert, kommt aus Tradition nicht nach oben", schrieb er bereits 1981 an den "Spiegel" - eine Prognose, die sich für ihn selbst erfüllen sollte. Befördert wurde Fahsel nie, dafür lieferte er sich zahlreiche Scharmützel mit Vorgesetzten. Mal ging es um die als ungerecht empfundene Geschäftsverteilung in seiner Kammer, mal um angeblich problematische Nebentätigkeiten der Oberen. Den für seinen Geschmack allzu zahmen Richterbund verspottete er als "Beförderungsverein auf Gegenseitigkeit".

Auch beim Ministerium meldeten sich einige Bürger

Auch als Zivilrichter, der vorwiegend mit Bankfällen befasst war, fiel Fahsel aus dem Rahmen. Harsch rügte er etwa 1996 den Bundesgerichtshof (BGH) für eine aus seiner Sicht allzu bankenfreundliche Rechtsprechung. Beim BGH, schrieb er in einer Urteilsbegründung, handele es sich um einen "von Parteibuchrichtern der gegenwärtigen Bonner Koalition dominierten Tendenzbetrieb", der sich allzu oft als "verlängerter Arm der Reichen und Mächtigen" verstehe. Banken seien für diese "ehrenwerte Institutionen", die gar nicht sittenwidrig handeln könnten. Wegen solcher "Fundamentalopposition" soll sich der Amtschef des Justizministeriums, Michael Steindorfner, geweigert haben, dem Richter, wie üblich, die Urkunde zum 40-Jahr-Dienstjubiläum auszuhändigen.

Auch beim Ressort von Steindorfner und Ulrich Goll (FDP) meldeten sich übrigens einige Bürger, die gerne eine Stellungnahme zu Fahsels Vorwürfen gehabt hätten. Davon habe man jedoch abgesehen, weil die "grob ehrenrührigen Behauptungen und Werturteile" in dessen Leserbrief viel zu pauschal seien, erläutert ein Sprecher. Die Attacken des "in der Justiz hinlänglich bekannten" Richters "mögen persönlich motiviert sein, entbehren aber jeder Grundlage".

In diesem Sinne antwortete auch Günther Oettinger, an den sich ebenfalls irritierte Leserbriefleser wandten. "Die von Ihnen zitierten Vorwürfe sind nicht haltbar", ließ er einen Referenten der Staatskanzlei ausrichten. "Herr Ministerpräsident setzt volles Vertrauen in die Justiz des Landes."
 
Von Andreas Müller Stuttgarter Zeitung

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