2013/09/27

Bis zum Unwohlsein behütet?




Eine Mutter hat ihr Kind entführt. Weil sie ihren Sohn zu sehr behütete, entzogen Amt und Gericht Claudia Renneberg das Sorgerecht für Sohn Timon. Jetzt sind beide spurlos verschwunden.

Reichenbach. Die Komplizin im Entführungsfall Timon wischt eine Träne weg. Sylvia Renneberg sitzt am Schreibtisch ihres Büros, wo sie sonst Leuten mit der Lohnsteuer hilft. Auf der am Computer aufgerufenen Webseite geht es nicht um Steuern, sondern um eine Petition gegen Amtswillkür. Sylvia Rennebergs Blick wandert vom Schirm zum Foto neben dem Computer. Ein Junge mit Baseballkappe grinst aus dem Rahmen, kratzt sich am Kinn. "Da war Timon noch keine vier", überlegt dessen Oma.
Inzwischen ist ihr Enkel sechs. Während der letzten anderthalb Jahre konnte Sylvia Renneberg die Treffen mit ihm zählen. Ihre Tochter Claudia, Timons Mutter, sah ihren Sohn noch seltener. Ihr Umgangsrecht legten die Behörden zwischenzeitlich auf Eis - gegen ihren Widerspruch und zum Wohle des Kindes, wie es hieß. Man hatte der Mutter das Sorgerecht entzogen, den Sohn in einer Pflegefamilie untergebracht - nicht, weil Timon vernachlässigt worden wäre. Timons Mutter warf man das Gegenteil vor: ihr Kind zu sehr zu behüten.

Reine Verzweiflung sei es gewesen, die ihre Tochter beim letzten Besuchstermin Mitte August dazu trieb, samt dem kleinen Sohn die Flucht zu ergreifen, sagt Sylvia Renneberg. Sie und ihr Mann wurden zu Mittätern. Während Tochter Claudia, Timon an der Hand, das Haus der Arbeiterwohlfahrt im vogtländischen Adorf verließ, laut Polizei wohl in ein Auto stieg und wegfuhr, hielt Sylvia Renneberg die als Aufsicht im Raum sitzende Umgangspflegerin fest. Timons Opa versperrte die Tür, damit keiner Tochter und Enkel folgte. Seither sind Mutter und Sohn verschwunden.
"Kindesentziehung und Freiheitsberaubung sind die Straftaten, die man mir vorwirft, aber dazu stehe ich", sagt Sylvia Renneberg. "Die eigentliche Straftat ist vor anderthalb Jahren passiert." Sie meint jenen 12. April 2012, als man ihre Tochter aufs Amt bestellte und plötzlich zwei Mitarbeiterinnen des Jugendamts vor ihrer Tür standen, um den von ihr beaufsichtigten Enkel abzuholen. Sylvia Renneberg spricht nur von "dem Hinterhalt".

Im Amtsdeutsch hieß der Vorgang "Inobhutnahme". Es war der bisherige Gipfel eines Streits, der 2010 begonnen hatte, als Claudia Renneberg und Timons Vater sich trennten. Die Mutter unterband letztlich Timons Umgang mit dem Vater. Das Jugendamt kam ins Spiel und forderte ein familienpsychologisches Gutachten. In der Tat attestierte Gutachter Thomas S. aus Bayern zwar jene von der Mutter behauptete Erziehungsunfähigkeit des Vaters, zugleich aber machte er bei Claudia Renneberg Probleme aus - konkret ein überbehütendes, hilfloses Erziehungsverhalten, die Unfähigkeit, dem Sohn Grenzen zu setzen, und die Tendenz, Timon von anderen fernzuhalten.

Dass sie den Hang habe zu klammern, räumte die Mutter ein. Erst auf Druck des Jugendamtes hatte Timon den Kindergarten besucht, wo er sich nach kurzer Eingewöhnung gut in die Gruppe einfügte. So gab es seine Erzieherin vor Gericht zu Protokoll. Von einem durch den Gutachter unterstellten Zurückgebliebensein Timons und dessen angeblicher Aggressivität hatte die Kindergärtnerin nie etwas bemerkt. Um dem aus ihrer Sicht nicht fundierten Gutachten, das auch aus Fachkreisen Widerspruch erfuhr, etwas entgegenzusetzen, ließ sich Claudia Renneberg im Februar 2012 mit Timon ins Krankenhaus Greiz einweisen. Sie hoffte auf eine vom Amt unbeeinflusste Einschätzung. Statt Retardiertheit machten die Greizer Ärzte bei Timon einen "Entwicklungsvorsprung von etwa neun Monaten" aus, statt Aggressivität "guten Umgang mit anderen". Allerdings attestierten auch sie der Mutter Probleme: konkret ein "großes Kontrollbedürfnis" und Klammerverhalten. Der Sohn sei ihr eine Stütze. Sie bespreche Sorgen mit ihm, hole sich Halt. Auf Dauer eine Situation, die das Kind überlaste, sein Wohl gefährde, fand man im Amt.

Sylvia Renneberg gab Timon schon vor Jahren Hilfestellung beim Klettern auf dem Spielplatz.

Foto: privat
Als Chance, die Unterbringung des Sohnes in einer Pflegefamilie abzuwenden, erlegte die Erziehungshelferin der Mutter eine Therapie gemeinsam mit dem Sohn in einer Klinik in der Oberpfalz auf. Die Mutter ließ sich darauf ein, brach die Therapie aber vorzeitig ab. Im Entlassungsbrief wurde ihr eine "posttraumatische Belastungsstörung" diagnostiziert und eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung des Borderline-Typs (von Impulsivität, Stimmungsschwankungen, manchmal selbstverletzendem Verhalten geprägte Störung). Noch während Claudia Renneberg in der Klinik war, traf das Jugendamt in Reichenbach Vorkehrungen, ihr Kind abzuholen. "Zuerst versuchte man, den Kindergarten zur Übergabe hinterm Rücken meiner Tochter zu bewegen, aber die Erzieherin weigerte sich, mitzumachen", weiß Sylvia Renneberg aus Berichten der Erzieherin Annett Rosin. Sich gegenüber der Presse zu äußern, habe sie keine Erlaubnis, betonte Rosin auf Anfrage.

Statt des Kindergartens wurde das Haus der Großeltern, in dessen Erdgeschoss Claudia Renneberg mit Timon ihre eigene Wohnung besaß, zur Kulisse der Abholaktion. "Erst habe ich gesagt, ich gebe Ihnen Timon nicht", entsinnt sich die Oma. Doch hätten die Jugendamtsfrauen gedroht, mit Polizei wiederzukommen. Als der Vierjährige dann gefragt habe, ob die Mama ihn am Abend wieder hole, habe sie ihn angelogen: "Ja, das macht sie", habe sie dem weinenden Kind gesagt.

Am 18. Juli 2012, Timons fünftem Geburtstag, entzog das Amtsgericht Auerbach der Mutter per Beschluss das Sorgerecht. Richterin Inge Bahlmann, zugleich Gerichtsdirektorin, entschied, Timon solle in der Pflegefamilie bleiben, in der man ihn untergebracht hatte. Oma Sylvia Renneberg habe zweiwöchentliches Umgangsrecht. Den Umgang mit der Mutter schloss die Richterin über Monate aus, was sie mit einem schlecht verlaufenen vorangegangenen Besuch begründete. Da habe die Mutter versucht, den Sohn "auf ihre Seite zu ziehen" und ihn verunsichert, argumentierte sie. Für Timons Entwicklung sei aber wichtig, dass er in der neuen Familie Wurzeln schlage und Halt finde, statt Zerrissenheit und Loyalitätszwängen ausgesetzt zu sein.
Claudia Renneberg focht auf juristischem Weg weiter um ihren Sohn und zog bis vors Oberlandesgericht. Auch dort scheiterte sie. Die Richter zweifelten nicht an den Einschätzungen des Ursprungsgutachtens, wenngleich Claudia Renneberg sich seither mehrfach erneut hatte untersuchen lassen - sowohl von einem Plauener Psychiater als auch im Zwickauer Krankenhaus. Eine "reaktive" Depression wurde ihr attestiert, von Borderline war keine Rede mehr. "Reaktive Depression? Kein Wunder wenn man einer Mutter das Kind wegnimmt", findet Sabine Richter vom Verband alleinerziehender Mütter und Väter (VAMV). Sie betreut die Familie seit Monaten. "Wir denken, dass die Behörde völlig unverhältnismäßig gehandelt hat", sagt die Frau aus dem Landesvorstand des Verbands. Das gleiche Unverständnis herrscht auch bei anderen, die Timon vor dessen Inobhutnahme regelmäßig erlebten. "Da gäbe es ganz andere, denen man das Kind wegnehmen müsste", urteilt eine namentlich nicht genannt werden wollende fachkundige Person von außerhalb des Familienkreises. Das Jugendamt des Vogtlandkreises beruft sich darauf, keine Details preisgeben zu können. Vor der Entführung betonte das Landratsamt lediglich: Ziel bleibe, Timon in seine Familie zurückzuführen. "Unverzichtbarer Bestandteil" dafür sei aber "aktive Mitwirkung" der Familie.

Eine Aktion wie die Entführung war damit nicht gemeint. Diese erschwert die juristische Lösung nun vielmehr. Der Zwickauer Polizeisprecher Jan Meinel sieht sich und seine Kollegen in der "Zwickmühle". "Menschlich" habe er für die Verzweiflung der Mutter Verständnis. "Doch kann man sich nicht über Recht und Gesetz hinwegsetzen. Das Wichtigste ist, dass Mutter und Sohn wohlbehalten wieder auftauchen", sagt er. Noch haben die sieben Beamten, die am Fall arbeiten, aber keine Spur.

Immer mehr Inobhutnahmen

 

2012 haben Jugendämter bundesweit 40.200 Kinder und Jugendliche in Obhut genommen. Die Zahl der Eingriffe ist in fünf Jahren um 43 Prozent gestiegen. Eine Inobhutnahme ist eine an sich kurzfristige Maßnahme zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor einer sie akut gefährdenden Situation. In Sachsen wurden 2012 6055 Verfahren zur Einschätzung einer Gefährdung des Kindeswohls eingeleitet. In 1234 dieser Fälle kam man zum Ergebnis einer akuten Gefährdung. Die Gründe: Anzeichen für Vernachlässigung: 910 Fälle, körperliche Misshandlung: 259 Fälle, psychische Misshandlung: 265 Fälle, sexuelle Gewalt: 47 Fälle. (gb/eu)
 
erschienen am 20.09.2013 (Von Jens Eumann (mit gb))
© Copyright Chemnitzer Verlag und Druck GmbH & Co. KG
 
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Kommentare
6
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  • 23.09.2013
    15:18 Uhr
    Interessierte: crashy9708:I
    Ich glaube gar nicht mal , dass dafür ein ´Familienpfleger`erforderlich gewesen wäre ..
    ( zumal ich dazu auch so meine eigene Meinung habe )
    Man sollte mal ´alle` Beiträge hier > zu diesem Thema lesen !

    Ich hatte gerade `Petition Renneberg` gesucht , aber leider nichts gefunden diesbezüglich . Aber darunter stehen 4 Interessante Links > und in denen wieder viele weitere .

    Und :
    11. Herr Landrat Lenk ...
    stimmt es, dass Sie gegenüber dem Autor dieses Beitrages geäussert haben, dass Sie die Pflegeeltern (...) für eine hervorragende Familie halten , in der auf Dauer das Kind sehr gut aufgehoben wäre, weil die Pflegefamilie selber keine eigenen Kinder bekommen kann?

    Das ist genau das Problem , was ich auch schon einmal angesprochen hatte ( das momentan 380 Familien Kinder suchen und kaufen )
    Zudem kam das sogar im MDR in ´Kripo Live`
    Das ist eine ganz üble Sache und wohl sehr verbreitet !!!!!!!!!!!!!!!!!
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  • 23.09.2013
    14:21 Uhr
    marte: Einfach ungeheuerlich, wie eine Behörde hier vorgeht!!!! Hut ab vor den couragierten Großeltern. Kann man die Familie irgendwie unterstützen?
    2 2
     
  • 21.09.2013
    20:55 Uhr
    charlie12: Schade das die Mutter die Fehler nur bei anderen sucht. Es ist schwer nachzuvollziehen, dass sich 3 Gerichte irren (Amtsgericht Auerbach, Oberlandesgericht Dresden und Bundesverfassungsgericht Karlsruhe) sollen.
    2 2
     
  • 21.09.2013
    11:43 Uhr
    crashy9708: Mit Verlaub:

    Als ich gerade den Artikel gelesen habe, da konnte ich hinterher nicht mehr so viel essen, wie ich kotzen könnte.

    Was bilden sich diese sogenannten "Jugendämter" denn eigentlich ein?

    Lungern Kinder den ganzen Tag über im Freien herum, schwänzen die Schule oder haben nicht mal das Frühstück in der Schulmappe, da kümmert sich keine "Sau" darum, auch dann nicht, wenn Drogen oder Alkohol mit im Spiel sind.

    ...und hier wird einer Mutter ihr Kind genommen, weil sie es übertrieben und abgöttisch liebt?

    Das kann doch wohl nicht mehr wahr sein.

    Über die "Hexe Honecker" da wurde seitenweise über solche Maßnahmen berichtet und dieser -ach sooooo soziale Staat, indem es scheinbar mehr Asozialität in den Büros der Ämteer gibt als draußen auf der Straße, der spielt jetzt und in diesem konkreten Fall den "Moral-Apostel"?

    Natürlich kann übertriebene Sorgfalt einem Kind auch schaden - aber wass wissen denn die Leute vom Jugendamt wirklich und wie "fähig" sind diese eigentlich tatsächlich?

    Mir wurden meine Söhne auch nicht zuerkannt, obwohl diese lieber zu mir wollten und das ganze Viertel zusammengeschrien haben als ich sie nach über 2einem Jahr wieder ausfindig gbemacht hatte und wiedersah.
    Dann versuchte meine Ex, mir die Kinder vorzuenthalten und daas Jugendamt war daas ganz "dicke" bei der Sache. Erst als ich mit Presse und Anwaltschaft drohte, da ging es plötzlich.

    Die Aufgabe der Jugendämter besteht auch darin, die familiären Umstände zu prüfen und Hilfe anzubieten.
    Was hier aber passierte, das ist Wild-West im Vogtlandkreis.

    Warum hat man dieser Frau keinen Familienpfleger an die Seite gestellt?

    Sicher hat der LAndkreis dafür kein Geld - Geld, dass aber vorhanden wäre, würde dieser Landrat sich selber nicht immer neue "Luftschlösser" bauen.

    Wie sagte doch Albert Einstein sinngemäß:
    Nicht der Mensch ist für den Staat, sondern der Staat ist für denn Menschen da.

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  • 20.09.2013
    09:56 Uhr
    Interessierte: Ich hoffe nicht , dass die Beiden wieder auftauchen
    denn die Behörden werden ihr Recht durchsetzen !!
    Zitat :
    "Doch kann man sich nicht über Recht und Gesetz hinwegsetzen !"

    Wooo findet man diese Petition ?????????????????
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