Es folgen Auszüge aus dem Artikel “Die Kinderheim-Industrie” von Max Z. Kowalsky. Der vollständige Text sowie ein Dossier zum Thema finden Sie in COMPACT 4/2015 – hier bestellen .
_von Max Z. Kowalsky

Anitas Unterarme sind geritzt. Die 15-jährige hat Selbstmordgedanken. Aus ärztlicher Sicht gehört sie psychiatrische Behandlung. Die erhält sie aber nicht. Anita geht nicht einmal zur Schule. Stattdessen treibt sie sich in der tristen polnischen Gemeinde Reichenau in Niederschlesien herum. Es klingt wie der Zustand einer Ausreißerin. Doch das Gegenteil ist der Fall. Anita ist Deutsche und wurde von einer privaten Betreuungsgesellschaft zu einer polnischen Pflegefamilie geschickt. „Warum ich eigentlich hier bin, versteh’ ich immer noch nicht“, erzählt Anita. „Ich sag’ das eigentlich fast jeden Tag, dass es total langweilig zu Hause ist und dass ich unbedingt zur Schule will.“ Sie ist Teil des „Auslandsprojektes“ der Heilpädagogischen Therapeutischen Kinder- und Jugendhilfe (HTKJ), einer GmbH mit Sitz im bayrischen Hohenroth. Das Jugendheim Kehlheim, welches das Teilsorgerecht für Anita hat, bezahlt dieser Gesellschaft monatlich 5.500 Euro für die Betreuung des Mädchens. Nur 600 Euro davon bekommt die polnische Pflegefamilie. Wohin der Rest des Steuergeldes geht, ist unbekannt. Die HTKJ lehnte Gespräche gegenüber dem Reporterteam der ARD- Sendung „Die Story im Ersten“ generell ab. (…)

Nach der Gesundheitsvorsorge, der Pflege und der Bildung ist mit der Kinder- und Jugendbetreuung noch ein weiterer wesentlicher Gesellschaftsbereich für Profitinteressen geöffnet worden. Auf den Staat angewiesene Heranwachsende werden somit zu einer Ware mit Kapitalwert degradiert. Kassenpatienten, Hartz IV-Empfänger, Leiharbeiter und Asylanten kennen das schon gut. (…)
Gemäß der Ideologie eines scheinbar freien Wettbewerbs wird die Arbeit der unterfinanzierten staatlichen Jugendämter dann an freie Träger – Vereine, Stiftungen, Privatunternehmen – ausgegliedert. Diese Einrichtungen fordern satte Tagessätze von bis zu 180 Euro. 4,4 Milliarden Steuereuro werden so jedes Jahr an freie Träger umverteilt. Ein lukratives Geschäft, bei dem das Wohl des jungen Menschen in den Händen mehr oder weniger kühl kalkulierender Unternehmer liegt. „Die Kinder sitzen in der Falle“, glaubt Hans-Peter Daumann, Sozialarbeiter aus Wacken. „Verändert hat sich, dass die Mitarbeiter des Jugendamts früher für ihr Klientel selber zuständig waren. Und heute wird es fremdvergeben. Und diese Träger haben überhaupt kein Interesse daran, dass es ihrem Klientel besser geht. Denn sie verdienen Geld damit.“ (…)

Das meiste Geld lässt sich im stationären Bereich machen. Seit 2006 sind die Kosten stationärer Unterbringer um 43 Prozent gestiegen. Die sogenannten Kinderhäuser des Unternehmens TheraVia generieren 700.000 Euro Umsatz im Jahr. Ein Heimleiter gibt fälschlicherweise vor, Kinder- und Jugendpsychotherapeut zu sein. Manche Kinder dürfen ihre Eltern nur in Abständen von mehreren Wochen sehen. Die Einrichtung versuche, „die Mutter-Kind-Beziehung zu unterwandern“, heißt es in der Reportage „Die Story im Ersten“. Familiengerichte und Jugendämter mischen sich nur äußerst selten in die Richtlinien der Einrichtungen ein. Aus dem Auge, aus dem Sinn… Wer Pech hat, landet in einer unpassenden Einrichtung, deren Träger sich aber den Ämtern am besten zu verkaufen wusste, wie der damalige Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD) erläutert: „Der Träger, sofern er auch Einrichtungen betreibt, wird immer feststellen, dass genau das Angebot seiner Einrichtung oder seiner Einrichtungen auf diesen Fall passt. Weil, er muss seine Einrichtung auslasten. Eine halbvolle Einrichtung schreibt keine schwarze Zahlen.“ (…)

Das Geschachere mit der Ware Mensch ist gerade in Deutschland allzu real. Wie man mit Unglück und Armut Geld macht, stellen Rita Knobel-Ulrich in ihrem Buch „Reich durch Hartz IV“ und die Hamburger JobCenter-Whistleblowerin Inge Hannemann in mehreren Auftritten dar. Ob Jugendämter Weisung haben, Menschen in Heimen sowie Hartz IV-Empfänger in sinnlosen Maßnahmen zu parken, ist nicht erwiesen. Aber der staatliche Unwille, sich seinen sensibelsten und selbstverständlichsten Aufgabenbereichen zu widmen, bei gleichzeitigem Kniefall vor dem freien Markt, wirkt auch ohne ausdrückliche Weisung. (…)